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lunaSteam / chris haderer___excerpts

Die Aliens von Lunik IX


Anfang März 2005 besuchte ich mit dem Fotografen
Luca Faccio (Bild unten rechts) im Rahmen einer Recherche für ein österreichisches Monatsmagazin die Roma-Siedlungen in Kosice und Svinia im Osten der Slowakei. Die Reportage wurde letztlich nicht veröffentlicht, weil sie nicht ins Lifestyle-Konzept des Magazines passte, denn beide Orte sind eine Art Vorhölle auf Erden. Aus den gesammelten Eindrücken und Aufnahmen entstand einerseits die im April 2004 beim Freien Radio Orange 94.0 im Rahmen des Augustin-Magazines ausgestrahlte Radioreportage "Die Aliens von Lunik IX." Angeregt durch die erneute Lektüre von Karl-Markus Gauß Buch "Die Hundeesser von Svinia" (das uns überhaupt auf die Idee gebracht hatte, uns mit dem Thema zu beschäftigen) habe später auch das Videomaterial zu einer Reportage zusammengestellt. Luca Faccios Fotoarbeiten wurden in verschiedenen Zeitschriften und Katalogen veröffentlicht und waren Bestandteil mehrerer Ausstellungen.

  

Radio: Die Aliens von Lunik IX

Erstausstrahlung: 1. Mai 2006 bei Radio Orange 94.0/Radio Augustin.

 

Die Aliens von Lunik IX - Erweitertes Sendemanuskript


Im Februar 2004 reduziert der Christdemokrat
Mikulás Dzurinda die slowakische Sozialhilfe auf 1450 Kronen, umgerechnet 35,80 Euro pro Monat. Daraufhin kommt es in kleineren Ortschaften um Košice im Osten der Slowakischen Republik zu Plünderungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Betroffen sind vor allem die kinderreichen Roma-Familien, von denen mehr als 90 Prozent arbeitslos sind. 2000 Soldaten wurden gemeinsam mit der Polizei auf Streife geschickt. Im ersten Einsatz seit der Gründung der Slowakischen Republik im Jahr 1993 wurden die Unruhen niedergeschlagen – nicht zuletzt um die EU-Osterweiterung nicht zu verpassen. Bis heute leben in der Slowakei tausende Roma-Familien unter menschenunwürdigen Bedingungen. Am Alltagsrassismus hat sich durch den EU-Beitritt der Slowakei nichts geändert – und neue Hoffnung hat die Öffnung der Grenzen den Roma auch nicht gebracht.

Eine Reportage von Chris Haderer.

   
Košice bei Nacht: Reihenhausanlagen mit angestaubtem Sowjet-Charme (Fotos: ch). Bild Mitte: In Svinia sind Kinder daran gewöhnt, in Journalisten-Kameras zu lächeln (Foto: Luca Faccio).

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Integration ist für die Slowakei seit Beginn der EU-Verhandlungen ein wichtiges Thema geworden. In der Slowakei leben etwa 400.000 Roma, die meisten in kleinen Siedlungen und Ghettos, bei extrem niedrigem Lebensstandard und einer Arbeitslosenquote von annähernd 100 Prozent. Durch die Öffnung der Grenzen sah sich die EU plötzlich mit einer potenziellen Völkerwanderung konfrontiert: was sollte geschehen, wenn tausende Roma auf den Gedanken kamen, die Slowakei, die nie eine gute Heimat war, zu verlassen und sich in anderen EU-Staaten anzusiedeln? Die EU machte ihre Befürchtung zu einem Anliegen, wodurch realitätsfremde Hilfsprogramme entstanden, um die Roma seßhaft zu machen. Praktisch alle Pläne misslangen: während der Sowjet-Zeit gelang es nicht, die von Tag zu Tag lebenden Roma in sozialistische Arbeiter umzuwandeln; und mit der Mitgliedschaft in der Europäischen Union vor Augen, wurde das Problem sogar noch schlimmer.

Košice ist eine Stadt im Nichts im Osten der Slowakei. Es gibt keine Autobahn und keine schnelle Eisenbahnverbindung, die Güterverkehr ermöglichen, dementsprechend hoch ist die Arbeitslosigkeit. Mit knapp 250.000 Einwohnern im Jahr 2001 ist die Stadt ein bißchen größer als Graz – und sieht auch so ähnlich aus. Dass Weißrussland nur eine knappe Autostunde entfernt ist, fällt zwischen Cola-Schildern, Mobilfunk-Werbungen und Marken-Parfumerien seit der Öffnung der Grenzen kaum ins Gewicht. Die Telefonzellen sind genauso verdreckt und zerstört wie im "Westen": jeder hat ein Handy. Neu ist auch der Flughafen, der die 600 Bahnkilometer nach Bratislava auf 50 Minuten reduziert. In den Propellermaschinen sitzen hauptsächlich Geschäftsleute und besserverdienende Slowaken: der Flug in eine Richtung kostet knapp 120 Euro - bei einem Durchschnittseinkommen von umgerechnet 450 Euro pro Monat.

  

Bonzenschachtel "Hotel Centrum", Marionnaud-Gerüche und eine Altstadt wie in Wr. Neustadt (Fotos: ch)

Vom Roma-Zentrum in Wien haben wir die Adresse der "Roma Press Agency" erhalten, wo wir uns einen ersten Eindruck verschaffen wollen. Die Agentur hat ihre Räume im 7. Stock des "Hotel Centrum" allerdings im Vorjahr aufgegeben - was uns aber zumindest die Möglichkeit gibt, uns im "Centrum" einzuquartieren. Während der Sowjet-Zeit war das "Hotel Centrum" einer der bedeutendsten Bauten der Stadt, jetzt ist es nur noch ein Relikt, das von Neubauten mühelos überragt wird und dessen Dach von Ford- und Philips-Reklamen beleuchtet wird. 17 Euro kostet ein Zimmer im alten Teil, 22 Euro im renovierten Zimmer des siebenstöckigen Hotelwürfels, der immer noch kantigen Bonzencharme verstrahlt. Wir logieren im sechsten Stock, genau unter den ehemaligen Räumlichkeiten der Roma Press Agency.

Die von der Journalistin Kristina Magdolenová geleitete Agentur versucht das "Bild der Roma in den Medien zu ändern." Weil die Miete kleiner ist, übersiedelte die Agentur im Vorjahr in eine Privatwohnung an den Stadtrand – ohne Namensschild an der Tür, weil die "rpa keine Hilfsorganisation für Roma ist", sagt Kristina Magdolenová. Dazu gäbe es nicht die finanziellen Mittel. Immer wieder wären notleidende Familien im alten Büro erschienen und hätten um Unterstützung gebeten. "Das können wir nicht tun, und das ist auch nicht unsere Aufgabe." Es ist aber nicht zuletzt auch das Bild vom armen Roma, der jenseits aller Integrationsversuche im Ghetto lebt, das Kristina korrigieren möchte. "Denn es gibt auch positive Beispiele, integrierte Roma und Erfolgsgeschichten." Die an an Sensationen interessierten Medien, die sofort da sind, wenn ein Roma blutend am Boden liegt, will sie zu einer anderen Art von Berichterstattung motivieren. Kristina Magdolenová prägte auch den Begriff "Mittelschicht-Roma", ihrer Definition zufolge "eine Gruppe von Roma, die Arbeit hat und integriert ist. Ihre Ziele und Werte sind denen der Mittelschicht der Nicht-Roma-Bevölkerung sehr ähnlich." Diese Mittelschicht sei am ehesten vollständig in die Slowakische Bevölkerung einzugliedern. "Es gibt viele Roma, die nicht in Armut leben. Das müssen die Medien zeigen." Den Roma müsse gezeigt werden, dass es Auswege gäbe und Wissen ein Schlüssel zu einem besseren Leben sei. Neben der Anprangerung des alltäglichen Rassismus will Kristina Roma beschreiben, für die ihre Herkunft kein Hindernis war. Trotzdem stehen den wenigen Erfolgsgeschichten tausende andere Schicksale gegenüber, die im Licht der EU-Erweiterung lieber in Ghettos und entlegene Siedlungen weggesperrt werden.

  

Im Büro der rpa: Kristina Magdolenová (mittleres Bild), Robert Packan und Daniela Hudiova (Fotos: ch).

Die Roma Press Agency wurde 1989 gegründet, begann ihre eigentliche Arbeit aber erst im Jahr 2002. Einer der Hauptgründe war, dass in den Medien keine Roma beschäftigt waren und das Roma-Bild in der Öffentlichkeit dementsprechend verzerrt dargestellt wurde. Am Anfang waren in der Agentur 15 Mitarbeiter im Innendienst beschäftigt, sowie bis zu 50 Personen "vor Ort". Heute sind es nur mehr fünf Mitarbeiter, die in der Roma Press Agency am medialen Selbstbild der Roma arbeiten. Die Arbeit in der Agentur ist keine ehrenamtliche Tätigkeit. An den Bildschirmen sitzen professionelle Journalisten, die bezahlt werden wollen. Das Geld kommt aus Amerika, von der Open Society Foundation. Auch von der slowakischen Regierung erwartet sich Kristina Magolenvoca finanzielle Unterstützung, aber die kommt nur spärlich. Seit Kristina Magdolenova in der Agentur arbeitet, fühlt sie sich so, wie sich die Roma in der Slowakei allgemein fühlen. Aber es scheint aufwärts zu gehen, meint sie und führt das auf den Vize-Präsidenten und den Kulturminister zurück, die an einer Veränderung der herrschenden Zustände arbeiten. Im Vorjahr bekam die Agentur nur vom Sozialministerium Geld. Das ist mittlerweile anders geworden – wie auch die Ausrichtung der Agentur, die zwar vorwiegend slowakische Medien beliefert, aber auch für den englischsprachigen Markt arbeitet.

Wann immer Journalisten aus Westeuropa in die Slowakei kommen, schreiben sie über die ärmsten Gemeinschaften, die es hier gibt; wie Lunik IX in Košice oder Svinia, beschwert sich Kristina. Tatsächlich machen die Armensiedlungen aber nur ein Drittel aller Roma-Dörfer aus. In den anderen leben Roma mit abgeschlossener Schulbildung. Darüber schreib niemand – und auch nicht darüber, WARUM die Roma so leben wie sie heute leben. Da muß man bis in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg zurückgehen. Damals hätte man den Grundstein für die Integration der Roma in die slowakische Bevölkerung legen können. Die Unterschiede waren nicht so groß. Dadurch entstanden aber abgeschottete Roma-Siedlungen außerhalb der Dörfer und Ortschaften. Darüber hinaus taten die Kommunisten im Jahr 1948 ihr möglichstes, um das kulturelle Gut und die Kultur der Roma zu zerstören. Familien wurden einfach umgesiedelt und zerrissen. Die Gemeinschaft der Familie ist aber eines der tragenden Elemente der Roma-Kultur. Die älteren Leute in den Roma-Gemeinschaften verloren ihren Einfluss auf die Jugend, und die Kommunisten machten sie zu Kriminellen. In den 40 Jahren der kommunistischen Knechtschaft wurde die Identität der Roma nachhaltig zerstört, ihre Sprache und alles. Das beginnt erst jetzt wieder, der Selbstfindungsprozess aber braucht Zeit.

Eine Agentur wie die Roma Press Agency zu betreiben, ist kein leichter Job. Ständig ist zu wenig Geld da, und die Arbeit ist manchmal nervenaufreibend. Immer wieder fragt sich Kristina Magdolenova, warum sie sich das antut. "Es ist ein Job für Träumer", lacht sie, und die Agentur freut sich über jede Unterstützung - auch aus der Europäischen Union. Vor dem EU-Beitritt der Slowakei wurde die Agentur vorwiegend von einer amerikanischen Stiftung finanziert. Jetzt geht es auch um EU-Gelder, bei gewachsenem bürokratischen Aufwand. Das kostet Kristina Kreativität und Energie; und was Fördergelder angeht, ist sie von der EU alles andere als begeistert. Zumal die Union immer zurückhaltender bei der Geldvergabe an regierungskritische Organisationen wird. Wurden in den Nachwehen des Kommunismus kritische Stimmen noch gerne gefördert, senkt sich nun EU-Konformität auch politisch über das größte Machtmittel des Bundes: das Geld.

Die Europäische Union: für sie ließ die slowakische Regierung sogar die Menschenrechte beiseite liegen, um das "Roma Problem" langfristig zu lösen. Zur Eindämmung der Roma-Population wurden Roma-Frauen vor zwei Jahren mit Geldversprechen dazu überredet, sich sterilisieren zu lassen. Vielen Frauen wurde auch gesagt, der Eingriff sei später wieder rückgängig zu machen. Iaria Ladislav, der von den Roma gewählte Bürgermeister der Siedlung Lunik IX, redet leise und mit belegter Stimme davon. Es ist ein unangenehmes Thema – nicht zuletzt für die slowakische Regierung, die einerseits als Gastgeberland des Bush-Putin-Summits international gut dastehen wollte, andererseits aber nicht verheimlichen kann, das im letzten EU-Zipfel vor Weißrußland immer noch rauhe Sitten herrschen. Obwohl Menschenrechtsorganisationen die Sterilisationen von Roma-Frauen noch längst nicht ad acta gelegt haben, stellte die slowakische Regierung die weitere Verfolgung mangels "Indizien für eine Straftat" ein, wie im Jahresbericht 2004 von Amnesty International nachgelesen werden kann. Übergriffe scheinen an der Tagesordnung zu sein, sodaß der UN-Ausschuß gegen Folter der Slowakei "die Schaffung eines effektiven, zuverlässigen und unabhängigen Beschwerdesystems" empfahl, "das Vorwürfe über Mißhandlungen und Folter unverzüglich und unparteiisch untersucht und die Verantwortlichen strafrechtlich belangt."

Lunik IX, eine Siedlung, in der mehr als 5000 Roma leben, ist nur ein kleines Stück weiter vom Stadtzentrum von Košice entfernt als der Flughafen, der Geschäftsleuten die sechshundert Bahnkilometer nach Bratislava ersparen soll. Robert, unser Dolmetscher, den uns die rpa vermittelt hat, deutet auf die linke Fahrbahnseite, wo eine Reihe von Einfamilienhäusern zu sehen sind. "Das ist eines der reichsten Viertel der Stadt", erklärt er. "Mit guter Aussicht auf das ärmste Viertel." Wir biegen von der Moldavska cesta auf eine Zufahrtsstraße ab. Die Busstation, an der wir vorbeikommen, ist die einzige öffentliche Verbindung zwischen Lunik IX und dem Stadtzentrum. Viele Gründe gibt es für die Roma allerdings nicht, in die Stadt zu kommen: Behördenwege, Einkäufe, Betteleien oder wenn sie sich als Musiker in einem der vielen Studentenlokale anbieten. Dann erinnern sie ein wenig an das Klischee des gutgelaunten Zigeuners aus der Puszta. Geduldet werden sie nur selten, sie sind Ablehnungen gewöhnt und deshalb fast schon stoisch. "Herzlich willkommen in Lunik IX", sagt Robert, als wir auf einem Parkstreifen gegenüber einem zweistöckigen Gebäude stehen bleiben, in dem sich die Verwaltung der Siedlung befindet – obwohl Siedlung nicht das richtige Wort ist. Lunik IX. ist ein Slum, ein Ghetto. Man kann schönere Worte dafür finden, aber dadurch nichts an der Wahrheit ändern. Lunik IX ist eine isolierte Welt, die nichts mit dem Rest von Košice zu tun hat: ein Abbruchgebiet mit nicht ganz zwei Dutzend desolaten Hochhausblöcken, die irgendwann in sich zusammenstürzen werden. Ein Kindergarten, eine Schule, ein Fußballplatz. Dazwischen Mülltonnen, Gerümpel, freiliegende Leitungen und Rauch. Ein beklommenes, rußiges Weltuntergangsszenario. Vor den Hauseingängen mit den zerschlagenen Fenstern stehen Roma in Gruppen herum, unterhalten sich und mustern uns Neuankömmlinge. Brandgeruch liegt in der Luft: vor einem Hauseingang qualmt es aus einer Mülltonne. Kinder spielen im Rauch. Was ist hier nur passiert?

  

Willkommen in der Raumstation Lunik IX (Fotos: Luca Faccio)

In den 80er-Jahren erkannte die Verwaltung von Košice den schlechten baulichen Zustand der Altstadt, die aufgrund der desolaten Gebäude hauptsächlich von Roma-Familien bewohnt wurde, die keine Miete bezahlten und keine Mietverträge besaßen. Um die Altstadt zu renovieren, wurde eine ethnische Säuberungsaktion durchgeführt und die Roma nach Lunik IX. zwangsübersiedelt. Die Roma, einerseits in eine Siedlungsgemeinschaft gedrängt, in der sie sich nicht wohlfühlten, und andererseits endgültig ihrer Mobilität beraubt, nahmen die von fremden Händen erbauten Häuser niemals als Wohnort in Besitz und ließen sie verfallen – bis zu dem, was Lunik IX. heute ist. Ein weißer Fleck auf der Landkarte, um den die Bewohner von Košice einen Bogen machen. Wer mit dem Bus nach Lunik IX. kommt, wohnt entweder hier oder ist Sozialarbeiter. Touristen sehen die Siedlung bestenfalls von oben, im Landeanflug auf Košice. "Manche Leute heizen mit offenem Feuer in den Wohnungen", sagt Daniela, unsere Romanes-Dolmetscherin. Sie ist selbst eine Roma: "Das ist der Grund, warum ich keinen Job bekomme", sagt sie. "Sobald die Leute erfahren, dass ich eine Roma bin, ist die Stelle plötzlich schon vergeben." Woran die Leute merken, dass Daniela eine Roma ist, will ich wissen. In der Slowakei besteht keine ethnische Auskunftspflicht. "Schau sie an", sagt Robert. "Siehst Du das nicht?" Vor einem Haus beginnen ein paar Roma zu schreien. Daniela beginnt zu lachen. "Sie streiten nicht", sagt sie. "Sie wundern sich, dass überall der Strom abgestellt ist, nur nicht in dem Haus, in dem der Bürgermeister wohnt." Es ist eiskalt, laut der Wettervorhersage minus neun Grad.

Während Lunik IX. hinter uns zurückfällt, ist es still im Wagen. Bis wir auf die Moldavska cesta einbiegen und rechts neben der Fahrbahn die Häuser der Reichen hochwachsen, sagt niemand etwas. "Was bedeutet Lunik?", frage ich Robert, als Lunik IX. am Autobahnhorizont untergegangen ist. "Den Namen haben die Sowjets gegeben", antwortet er. "Er bedeutet Raumstation."

Bei Lunik IX. kann man sich vor Augen halten, dass es sich "nur" um einen heruntergekommenen Stadtteil handelt, in dem seit Jahrzehnten kaum Reparaturen stattgefunden haben. Trotz dem Müll und dem Qualm, den zerschlagenen Fenstern und den zerbröckelnden Mauern, bewegt man sich durch ein Terrain, das zumindest den Eindruck macht, irgendwo dazuzugehören. Die Roma-Siedlung bei Svinia, knapp 80 Kilometer von Košice entfernt, hat auf eine zynische Art weitaus mehr von einer Raumstation als Lunik IX. Die Roma-Kolonie in Svinia ist ein traumatischer Platz; ein menschenunwürdiger Ort im Herzen Europas. Die Freundlichkeit der Menschen in Svinia macht den Ort ein bisschen erträglicher; auch wenn er ein Vorhof zur Hölle bleibt, wie Karl Markus Gauß ihn in seinem Buch "Die Hundeesser von Svinia" (siehe EVOLVER-Rezension) beschrieben hat. Martina, die Sozialarbeiterin, erzählte ihm, dass die Roma in Svinia alles vergessen haben, was zum Leben gehört. "Nach zehn Jahren", schreibt er, als erste Hilfsprogramme begannen, "hatte man einmal eine Anzahl lebender Hühner nach Svinia gebracht, im naiven Glauben, diese erste Dotation werde die Roma motivieren, nicht immer nur auf den Tag zu warten, an dem die Sozialfürsorge ausbezahlt und im örtlichen Supermarkt gleich in Waren umgesetzt werde, sondern einen ersten bescheidenen Schritt zur Selbstversorgung zu tun. Als ein Mitarbeiter des Projekts am nächsten Tag in die Siedlung kam, waren alle Hühner tot. Ein Teil von ihnen war bei einem Fest abends verzehrt worden, die anderen lagen geköpft, den Hunden zum Fraß vorgeworfen, irgendwo in der Siedlung herum. 'Sie wußten nicht einmal mehr, daß Hühner Eier geben und sie wußten nicht, wie man Hühner hält.'"

  

Bilder aus einem Dorf am Ende der Welt (Fotos: Luca Faccio; Bild rechts: ch)

Ein paar hundert Meter außerhalb der kleinen Ortschaft, die sich kaum von anderen Punkten auf der slowakischen Landkarte unterscheidet, leben die Geächteten in der Roma-Hierarchie. Knapp 800 Menschen sind es, mit denen niemand etwas zu tun haben will, weil sie "Degesi" sind, Hundeesser, obwohl sie noch nie einen Hund gegessen haben. Die Mitglieder dieser Roma-Gemeinschaft sind zur Abgeschiedenheit verdammt, was zu einer Vermischung der Erblinien und auch zu dementsprechenden Erbschäden geführt hat. Wer die Siedlung betritt, wird sofort von neugierigen Kindern umringt. Trotz der Freundlichkeit bleibt es ein Ort des Elends: zerfallene Häuser, deren Dächer zum Teil mit Fetzen verhängt sind, herumliegender Abfall und Teile getöteter Tiere, und überall Klebstoff-Tuben, das Opium der Armen. Svinia ist eine Siedlung am Ende der Welt. Was kann noch schlimmer sein? Martina, eine Sozialarbeiterin in Svinia, versucht die Menschen zur Selbstversorgung zu erziehen, weil ihnen die meisten dieser Fähigkeiten verloren gegangen sind. Ein Blick nach draußen läßt am Erfolg ihrer Bemühungen zweifeln, auch wenn die Freundlichkeit der Menschen in Erinnerung bleibt. Beim Abschied singt ein Roma-Kind für uns: Ave Maria.

  

Die Roma-Siedlung liegt ein Stück ausserhalb der Ortschaft Svinia (Fotos: Luca Faccio)

"Wir wissen keine Lösung für das Problem", sagt Zuzana Bobriková, die Stellvertreterin des Bürgermeisters von Košice. "Wir haben vieles versucht, aber alle Pläne sind fehlgeschlagen." Wie es mit Lunik IX. weitergehen wird, weiß sie selbst nicht. Dass im vergangenen Winter die Stromversorgung der meisten Blocks abgeschaltet wurde, führt sie einzig auf den hohen Schuldenstand der Siedlung zurück. "Der Strom wird von einem privaten Unternehmen geliefert, das natürlich Geld für seine Leistungen haben will" – und das die Stadtverwaltung nicht ausgeben wollte. Auch für die Abschaltung der Heizung hat sie eine Erklärung: weil es kein warmes Wasser gab, entnahmen viele Familien ihr Warmwasser dem Heizkreislauf. "Das konnte nicht ständig repariert werden." Die Mittel fehlen. Die Mittel für den Erhalt von Lunik IX. und letztlich auch die Mittel für eine Bevölkerungsschicht, die praktisch nichts zum Staatshaushalt beiträgt. Gibt es überhaupt eine Lösung? Bislang sind fast alle Versuche, die Roma in das soziale Leben der Slowakei zu integrieren, mehr oder weniger fehlgeschlagen. "Angepasste" Roma, die über eine Berufs- oder Hochschulausbildung verfügen, sind auch in den eigenen Reihen nicht sehr beliebt; nicht zuletzt, weil sie die traditionelle Roma-Lebensweise aufgegeben haben. Aber wie sieht diese traditionelle Lebensweise aus? "Roma gelten als unverläßlich", sagt Zuzana Bobriková. "Sie bekommen manche Stellen nicht, weil die Unternehmen befürchten, dass sie nicht jeden Tag zur Arbeit erscheinen." Ein weit verbreitetes Vorurteil? "Es gibt solche und solche", sagt Robert Packan. "Manche denken nicht an morgen, andere schon." Die Chance allerdings, dass jemand aus Lunik IX.  einen einigermaßen vernünftigen Job bekommt, ist denkbar gering. Die meisten sind schon irgendwie zerfressen; viele vom Klebstoff, der mangels anderer Drogen von allen Altersgruppen geschnüffelt wird. Die meisten sind arm und werden es wahrscheinlich bleiben (wobei es auch Roma gibt, die durch interne Machtspiele reich geworden sind, wie beispielsweise Geldverleiher, die sich ein mafiöses Abhängigkeitsnetz aufgebaut haben). "Außerdem liegt die Arbeitslosigkeit in der Region von Košice bei knapp 13 Prozent", sagt Zuzana Bobriková. Trifft ein Teil der Vorwürfe nicht auch die Roma selbst, die in einer kapitalistisch ausgerichteten Welt ihre Standpunkte nicht aufgeben und ihre traditionellen handwerklichen Fähigkeiten, die früher einmal das Überleben sicherten, um neue, heute gefragte Techniken ergänzen? Können so unterschiedliche Lebensweisen überhaupt erfolgreich verschmelzen, ohne dass eine davon verloren geht?

  

Für das "Problem" Lunik IX hat Bürgermeister-Stellvertreterin Zuzana Bobriková (links) leider keine "Lösung" (Fotos: ch)

Das Problem der Integration der Roma hat viele Sichtweisen und Standpunkte – und es ist kein auf die Slowakei beschränktes, wenngleich es dort vielleicht am akutesten ist. Die EU wünscht, trotz offener Grenzen, die eine demokratische Stärke des Staatenbundes darstellen sollen, keine Abwanderung der Roma aus der Slowakei. Verhindern könnte es sie jedoch nicht – außer, dass den meisten Roma ohnehin die Mittel und Möglichkeiten fehlen, mit ihren Familien auf die Flucht zu gehen. Die Situation der Menschen in Lunik IX. und Svinia mögen Extremsituationen wiederspiegeln, die nicht die Regel sind. Auf der einen Seite tragen die Roma zum kulturellen Reichtum Europas bei, andererseits sind sie zu Anachronismen geworden, die in einer regulierten Welt nicht zu Hause sein können. Integration bedeutete für die Roma immer die Anpassung an die im jeweiligen Land übliche Lebensweise, egal ob in der Slowakei oder im kaiserlichen Österreich unter Maria Theresia oder im Wiederschein von Oberwart.

Lunik IX. und Svinia sind Ausschläge auf einer Skala, die es eigentlich nicht geben dürfte.

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